Auszeichnung Klopstock-Preis: Annett Gröschner – Autorin der verdrängten DDR-Erinnerungen
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Die 1964 in Magdeburg geborene Autorin Annett Gröschner erhält am 7. September den Klopstock-Preis für neue Literatur 2021. Es ist die höchste Literaturauszeichnung des Landes Sachsen-Anhalt. Der Preis ist mit 12.000 Euro dotiert. Seit mehr als drei Jahrzehnten verfasst Gröschner Bücher, die auch die persönlichen Erinnerungen einer DDR-Biografie thematisieren, welche in den Veränderungen der folgenden Jahrzehnte nur zu leicht weggespült wurden. Ein Porträt.
Annett Gröschner schreibt klar, wie kaum eine andere, über die Verdrängungs- und Übertrumpfungsprozesse im wiedervereinigten Deutschland. Sie erzählt von denen, die rausgeflogen sind aus ihren Wohnungen, aus ihren Lebensplänen und aus allen Systemen, an die sie irgendwann mal geglaubt haben.
Literatur des Schwebezustands
Schließlich hat Gröschner, geborene Magdeburgerin, den großen Systemwechsel der Jahres 1989 selbst miterlebt – und sie kennt jenen seltsamen Zustand, in dem alles ungewiss ist, Menschen etwas zugleich bewahren und überwinden wollen.
So wie Gröschner im Ost-Berlin der Vorwendemonate: "Es gab diesen großen Zwiespalt – die einen, die weggehen wollten, die anderen, die dableiben wollten. Und das war schwierig, weil die, die weg wollten, sich auch immer mehr getraut haben als die, die dableiben wollten. Ich gehörte zu denen, die dableiben wollten, ich hatte eigentlich kein Verhältnis zum Westen. Ich dachte, ich will HIER Dinge machen."
Magdeburgerin mit Verständnis für Alltagssprache
Und vielleicht lässt sich das Werk der Gröschner vor allem in dieser untergründigen Zerrissenheit beschreiben: Hier die Sympathie für die Hierbleiber, dort das Verständnis für die Weggeher,. Hier die Liebe zum dichterisch ausbalancierten Satz, dort das Bündnis mit den Gescheiterten – der Zungenschlag der einfachen Leute. So sprechen zum Beispiel Frau Köhnke und Frau Menzinger, zwei Figuren aus ihrem 2011 erschienenen Roman "Walpurgistag".
Aus dem Buch:
Frau Menzinger: Wenn ick schon diesen Kerl da sehe. Sehn Se den? Det is der, dem det Kabriolett jehört. Dieset Männeken, wat kostet de Welt. Ne Landmine müsste jetze losjehn. Dafür, dass man uns Alte in Betreutes Wohnen steckt, damit die unter sich sein können. In unsern Häusern!
Darauf Frau Köhnke: Ach, Sie waren Besitzerin? Mussten Sie veräußern? Frau Menzinger: Quatsch, Besitzerin. Icke! Ne Wohnung, in der meine Familie seit achtzig Jahren wohnt, is das etwa nich meine?
Lassen sich die raffiniert-komplexen Begründungen der Investoren-Kaste kürzer und treffender auseinandernehmen als mit einer solchen Entgegnung?
Vertraut mit sozialen Zusammenhängen
Das Gegenteil von Geschäftssinn und Ökonomie ist nun mal Witz im Zusammenspiel mit Poesie und genauer Kenntnis der sozialen Zusammenhänge. Und eben diesem Prinzip folgt Gröschner, seit sie Texte schreibt, seit Mitte der 80er-Jahre.
Aus Magdeburg nach Berlin gekommen, arbeitet sie nach ihrem Germanistik-Studium als freie Autorin. Sie ist Redakteurin der Nachwende-Zeitschriften "Ypsilon" und "Sklaven", schreibt Gedichte, Essays, Radiofeatures, Sachbücher, Romane. Tatsächlich ist sie eine der wenigen Frauen, die in den Dichterkreisen des Prenzlauer Bergs Anfang der 1990er-Jahre so etwas wie ein Stimmrecht haben.
Zwischen Sachbuch und Roman
Gattungsgrenzen bedeuten dieser Autorin wenig, denn fast immer nimmt sie die Elemente der Dokumentarliteratur mit herüber ins Belletristische – und umgekehrt.
In "Moskauer Eis", ihrem ersten, viel gelobten Roman, nimmt sie eigene biografische Erfahrungen auf und erzählt die Geschichte einer Magdeburger Familie, die auf vertrackte Weise mit der Speiseisproduktion in der DDR verbunden ist. Im Roman "Walpurgistag" nimmt sie einzelne Handlungsfäden ihres Romandebüts wieder auf und entwirft so etwas wie einen geheimen, sozialen Stadtplan vom Berlin der Nullerjahre, mit weiten Ausflügen in die Vergangenheit.
Die Lücke zwischen den Welten
Es ist diese Lücke, in die hinein Gröschner mit ihren Texten drängt, die Lücke zwischen den Welten, zwischen der dreckigen Prosa der Verhältnisse und dem Schönen, dem Früher und dem Heute, dem Hochdeutsch und den verschiedenen Dialekten, zwischen Magdeburg und Berlin, zwischen Anarchie und Ordnung, und letztlich auch die Lücke zwischen Frauchen und Männchen.
Genau dort leuchten die Texte der Gröschner auf, dort haben sie ihren Platz und erzählen uns etwas, das wir ohne diese Texte wohl einfach übersehen würden.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 07. September 2021 | 07:10 Uhr