Buchtipp "Die Weggesperrten" Schicksale in DDR-Jugendwerkhöfen: Neues Buch gibt Opfern eine Stimme
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Schläge, Drill, Psychopharmaka: Kinder und Jugendliche, die in der DDR als "schwer erziehbar" galten, landeten in Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen. Es gab sie u.a. in Friedrichswerth (Thüringen), Wittenberg und Burg (Sachsen-Anhalt) sowie Freital und Torgau (Sachsen). Vielerorts wurde versucht, sie mit der "Explosionsmethode" und "schwarzer Pädagogik" umzuerziehen, ihre Persönlichkeiten durch Misshandlungen zu brechen. Noch heute haben viele ehemalige Insassen mit dem Trauma zu kämpfen. Die Autoren Grit Poppe und ihr Sohn Niklas Poppe aus Halle dokumentieren im Buch "Die Weggesperrten" das Leid der Kinder und Jugendlichen – und lassen sie selbst zu Wort kommen.
Wer nur ein wenig aufmüpfiger war als die übrigen Altersgenossen und wer sich nicht anpassen mochte an starre gesellschaftliche Normen, galt in der DDR rasch als Problemfall. Was das bedeuten konnte, haben viele Menschen auf unterschiedliche Weise erfahren müssen, und zwar schon von jungen Jahren an. Kinder und Jugendliche, mit denen man nicht zurande kam, landeten nicht selten in einem Umerziehungsheim. Die DDR etablierte ein komplexes System solcher Heime mit dem Ziel, renitente Halbwüchsige umzuformen. Über diese Einrichtungen ist mittlerweile Einiges bekannt. Das Schicksal der Insassen will "Die Weggesperrten" nun mehr ins Licht rücken.
"Ich fand die immer hochdramatisch, diese Geschichten, und habe mich gewundert: Warum schreibt das keiner auf?", so die Autorin Grit Poppe. "Es gibt natürlich autobiografische Sachen. Aber im Großen und Ganzen fehlte mir ein Werk, wo diese realen Geschichten aufgeschrieben werden und man auch guckt: Was war in der Bundesrepublik los? Was in der Zeit des Nationalsozialismus mit den 'Schwererziehbaren'?" Genau solch ein Buch hat die Schriftstellerin Grit Poppe nun gemeinsam mit ihrem Sohn Niklas Poppe geschrieben.
Ich fand diese Geschichten immer hochdramatisch und habe mich gewundert: Warum schreibt das keiner auf?
Schicksale sollen für sich sprechen
Im Zentrum des Buches stehen die Opfer. Deren Erinnerungen haben die beiden Autoren lediglich eine informative Einführung sowie knappe Informationen zu unterschiedlichen Heimtypen vorangestellt. Die Berichte der ehemaligen Insassen über die Zeit in Spezialheimen, Durchgangsheimen und Jugendwerkhöfen sollen für sich sprechen.
Der 1974 im ländlichen Sachsen geborene René Brockhaus findet für die Erschütterung, urplötzlich aus dem bisherigen Alltag gerissen zu werden, und den Schock der Ankunft in einem Spezialkinderheim ein bestechendes Bild:
Aus "Die Weggesperrten":
"Eines Tages, im Sommer 1986, wurde ich aus der Klasse geholt, von mir fremden Menschen aus der Schule geführt und in ein Auto gesteckt. Von der Fahrt weiß ich nichts mehr. Nur, dass mich zwei Männer ins Spezialkinderheim gebracht haben. Ausgestiegen bin ich vor dem berüchtigten Haus 1 in Bräunsdorf. Es war ein heißer Tag, als ich dort ankam, und irgendwie bin ich dort unter der Sonne erfroren."
René Brockhaus über seine Ankunft im Spezialkinderheim 1974
Bestrafungen durch Psychopharmaka und Schläge
Viele derer, die Auskunft geben, haben eine regelrechte Odyssee durch verschiedene Heime hinter sich. Die Berichte ermöglichen Einblicke in einen Alltag, der darauf abzielte, den Jugendlichen jeglichen Eigensinn auszutreiben und sie zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu formen. Dafür waren fast alle Mittel recht. Psychopharmaka gehörten ebenso zum Repertoire der Disziplinierung wie stupider Drill und Bestrafungen durch das Kollektiv.
Im Geschlossenen Jugendwerkhof von Torgau fand das System der Umerziehung seinen schaurigen Endpunkt. Hierher, in ein früheres Gefängnis, kamen die Jugendlichen, die sich trotz aller Schikanen und Drohungen nicht bändigen ließen. Durch Schläge, entwürdigende Leibesvisitationen und Arreststrafen sollten sie gefügig gemacht werden.
Das kalkulierte Vorgehen, das nach dem russischen Pädagogen Anton Makarenko als "Explosionsmethode" bezeichnet wurde, zielte darauf ab, den Willen und die Persönlichkeit des widerspenstigen Einzelnen überfallartig zu brechen. "Diese Explosionsmethode wurde perfide angewandt", so die Autoren. "Dadurch entstanden auch diese Traumatisierungen letzten Endes. Denn selbst Leute, die nur kurz in Torgau waren, haben heute noch damit zu tun."
Auch Stimmen zu "schwarzer Pädagogik" im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik
Grit und Niklas Poppe konzentrieren sich in ihrem Buch auf einschneidende Erfahrungen mit Umerziehungspraktiken in der DDR, die das Leben der Betroffenen über die Heimzeit hinaus geprägt haben. Aber sie wollen überdies verdeutlichen, dass Methoden einer "schwarzen Pädagogik" älter sind und auch andernorts praktiziert wurden.
Sie haben daher ergänzend Stimmen gesammelt, die den Umgang mit unangepassten und randständigen Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus, aber auch in der Bundesrepublik und der Schweiz dokumentieren. Niklas Poppe, Historiker und Autor: "Es ist allgemein so, dass Kinder und Jugendliche, die unter diesem Stigma 'Schwererziehbarkeit' gelitten haben beziehungsweise dort verortet worden sind, immer wenig Beachtung erfahren haben, unabhängig davon in welcher Zeit."
Geschichten der Opfer müssen präsenter werden
Die Geschichten der Opfer seien durchweg zu wenig präsent, glaubt Niklas Poppe. Dieser zweifellos zutreffende Befund erklärt womöglich am deutlichsten den Wunsch der beiden Autoren, vor allem den Opfern selbst Raum zu geben. Deren sich ähnelnde Erinnerungen dokumentieren das erfahrene Leid, aber auch den Willen zur Selbstbehauptung. Im besten Fall könnte die Stimmensammlung Ausgangspunkt für eine weitergehende Beschäftigung mit dem Heimsystem in der DDR sein.
Über die Autoren
Schriftstellerin Grit Poppe wurde 1964 in Boltenhagen geboren und hat am Literaturinstitut in Leipzig studiert. Die Autorin schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. In Jugendromanen setzte sie sich bereits mit dem Leben von Heimkindern auseinander. Für den Jugendroman "Weggesperrt" wurde sie vielfach ausgezeichnet, darunter mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Zuletzt von ihr erschienen sind die Jugendbücher "Alice Littlebird" (2020) und "Verraten" (2020) sowie der Roman "Angstfresser" (2020).
Niklas Poppe ist ihr Sohn und wurde 1991 in Potsdam geboren. Er studierte Deutsche Sprache und Literatur sowie Geschichtswissenschaft an der Martin-Luther-Universität (MLU) in Halle und beschäftigt sich als Historiker und Mitarbeiter in Gedenkstätten in Halle, Bernburg und Potsdam mit dem Nationalsozialismus und der DDR-Geschichte. Niklas Poppe lebt in Halle.
Angaben zum Buch
Grit und Niklas Poppe: "Die Weggesperrten. Umerziehung in der DDR – Schicksale von Kindern und Jugendlichen"
416 Seiten, Propyläen Verlag
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 20. Oktober 2021 | 08:10 Uhr