Bühne Theater Dessau handelt mit Ronald M. Schernikau gesellschaftliche Glaubensfragen ab
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Ronald M. Schernikau war eine schillernde Figur. Er studierte zu DDR-Zeiten am Leipziger Literaturinstitut, wurde noch vor der Wiedervereinigung freiwillig DDR-Bürger und starb 1991, erst 31-jährig, an AIDS. Ein Einblick in seine faszinierende Gedankenwelt ist jetzt auf der Bühne des Anhaltischen Theater Dessau zu erleben.

Willkommen in Dessau, willkommen zu einer Zeitreise der besonderen Art. Denn erstens kann man in Dessau endlich wieder einmal einen Theaterabend (fast) so wie früher erleben, unter dem Stern von "2 G +". Will heißen, geimpft oder genesen muss man schon sein und einen tagesfrischen Test braucht es ebenso wie einen Nachverfolgungseintrag im Pandemiebesucherbuch. Für den Fall der Fälle. Am Einlass herrscht nervöse Freundlichkeit.
Drinnen dann alles wie immer. Die Bar im Foyer ist geöffnet, hat auch Alkoholisches im Angebot. Eine Tischbestellung für die Pause wird empfohlen.
Die Maske an der Garderobe abgeben
Das Theater ist ausverkauft, aber nicht voll. Eine gewisse Abstandssitzordnung sorgt für diesen Zustand. "Maske", antwortet die nette Platzanweiserin auf meine Frage, "brauchen sie nicht zu tragen." Die Mehrheit tut es trotzdem. Zeitgeist oder Macht der Gewohnheit? Ich jedenfalls war froh drüber, Theater endlich wieder mal frei atmend erleben zu können. Auf dem Spielplan eine Uraufführung. Ihr Titel "der himmel ist ja da. der himmel fängt hier unten an.* ein ronald m. schernikau-abend".
Wer ist dieser Ronald M. Schernikau?
Ronald M. Schernikau ist ein allzu früh verstorbener Wanderer zwischen den Welten – Kommunist, Schriftsteller und schwuler Aktivist. Geboren 1960 in Magdeburg, als Sechsjähriger mit seiner Mutter in den Westen geflüchtet. In Lehrte bei Hannover aufgewachsen, hat er die DDR immer vor Augen und als Heimat im Hinterkopf. In jugendlichen Jahren schon Mitglied der DKP, geht er in den 1980ern nach Westberlin.
Er studiert dann als Bundesbürger von 1986 bis 1989 am Literaturinstitut in Leipzig. Und erfüllte sich 1989, wie viele Bürger der DDR, den Traum vom Land seiner Träume – nur lag das für ihn im Osten. Im September 1989 nahm er die DDR-Staatsbürgerschaft an, wurde 1990 noch kurz Mitglied des DDR-Schriftstellerverbandes. Ein untergehender Traum, der für ihn nur kurz währte. 1991 starb er in Berlin an Aids.
Ein Leben wie ein Roman – auch ein bühnentaugliches?
Es ist ein Abend, der von der Puppen- und Menschenspielerin Bianka Drozdik und den beiden Schauspielern Nicole Widera und Niclas Herzberg bestritten wird. Die drei stecken in grellbunten 80er-Jahre Overalls und sind mit Perücke und Oberlippenbärtchen alle auf Ronald M. Schernikau geschminkt. Sie stimmen mit Blockflöte, Triola und Tamburin im Foyer zunächst ein Glaubenslied an. Um Noah geht es da, die Taube, den Frieden und Gerechtigkeit. Der schöne Moment, wo sich der Glaube an Gott oder den Kommunismus schon immer sehr nahegekommen sind.
Vom Foyer geht es auf die Bühne, wo Ronald M. Schernikau als überdimensionaler Puppenkopf auf einem Sockel thront. Nicht lange, denn die drei holen ihn runter auf die Bühne – und uns hinein in sein Leben, Denken, Schreiben. 90 biografische Minuten sind das, in denen es aber auch um das deutsch-deutsche Zusammenwachsen im Speziellen und das Funktionieren von Gesellschaft im Allgemeinen geht.
Gesellschaftliche Glaubensfragen
Wir erleben ein spielfreudiges Ensemble, bei dem selbst der Inspizient zum Mitspieler und Tänzer avanciert. Das Team um den Regisseur Christian Franke geht die großen gesellschaftlichen Glaubensfragen mit Lockerheit an. Alle sind so jung, dass sie den realexistierenden Sozialismus zumindest kaum bei politischen Bewusstsein erlebt haben können. Aber hellen Kopfes genug, auch unsere real existierende kapitalistische Gegenwart hinterfragen zu wollen.
Mit Ironie und Beckett
Dafür schlüpfen sie mit Dankbarkeit in die Denkmuster von Ronald M. Schernikau. Sie hinterfragen alles, verurteilen aber nichts. Das macht sie frei im Kopf. Will sagen, auf der Bühne werden gesellschaftliche Glaubensfragen abgehandelt. Aber so, dass man sich auch die Argumente anhören kann, die nicht dem eignen Denken entsprechen.
Insofern hat der Abend schon fast etwas lehrstückhaft-dialektisches. Wenn es zum Beispiel heißt: "Wenn man Beckett gelesen und verstanden hat, bleibt einem nichts übrig, als am nächsten Tag in die Kommunistische Partei einzutreten. – Doch wenn man denen sagt, ich habe Beckett gelesen, nehmen die einen wahrscheinlich nicht." Richtig, möchte man da hinzufügen, und wenn's ganz dumm kam, haben sie einen dafür noch ins Gefängnis gesteckt.
Umso schöner ist es, einen solchen Theaterabend in relativer pandemischer Freiheit erleben zu können. Und schon geht das Hinterfragen von gesellschaftlichem Verhaltensnormen weiter. Dank dem Theater, das mit solchen Aufführungen zeigt, wie systemrelevant es ist.
Das Theaterstück
der himmel ist ja da. der himmel fängt hier unten an.
ein ronald m. schernikau-abend
Schauspiel mit Puppe (Uraufführung)
Fassung von Christian Franke unter Verwendung von "Legende" und "Königin im Dreck: Texte zur Zeit" von Ronald M. Schernikau
Inszenierung Christian Franke
Puppenbau Magdalena Roth
Mit Bianka Drozdik , Niklas Herzberg , Nicole Widera
Aufführungen:
Premiere am 11. Januar 2022
Do, 13.1.2022 | 20 Uhr | Altes Theater/Studio
Fr, 14.1.2022 | 20 Uhr | Altes Theater/Studio
Sa, 12.2.2022 | 20 Uhr | Altes Theater/Studio
Fr, 25.2.2022 | 20 Uhr | Altes Theater/Studio
Die Aufführungen finden als 2G+-Veranstaltungen statt, für genesene und vollständig geimpfte Zuschauerinnen und Zuschauer, die einen aktuellen, zertifizierten Schnelltest vorweisen.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 12. Januar 2022 | 08:40 Uhr