Mein Körper – Meine Hoffnung Tabuthema Totgeburt: "Leb' mal damit!"
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Sarah ist Mutter von zwei Söhnen: Ihr Ältester ist 10, er steht auf Fußball und Karate. Ihr Jüngster – Henri – ist 7 Monate alt und wird es immer bleiben. In der 33. Schwangerschaftswoche hat Sarah ihn "still" zur Welt gebracht – in einem Kreißsaal in Leipzig – nur eine Wanddicke entfernt von inbrünstig schreienden Neugeborenen und den glücklichen Eltern. Sarah und ihr Freund Chris fahren ohne Baby zurück ins thürinigische Döllstedt, dafür mit schmerzvollen Erinnerungen und schwer wiegenden Selbstzweifeln.

Henri ist ein Wunschkind. Ab dem Moment, als auf Sarahs Schwangerschaftstest eine zweite feine Linie erscheint. Eigentlich hatten die Ärzte gesagt, dass sie nicht mehr schwanger werden könnte. Für das Paar aus Döllstädt in Thüringen ist der positive Test deshalb ein völlig unerwartetes Glück.
Mit Henri wäre ihre Patchwork-Familie, zu der bereits zwei Söhne aus früheren Beziehungen der beiden gehören, komplett.
"Alles prima", bis zur 28. Schwangerschaftswoche
Sarahs Schwangerschaft verläuft ganz normal. Ihr Babybauch wächst stetig. Bei den Untersuchungen gibt es keine Auffälligkeiten: Henri geht es gut. Die Frauenärztin sagt, er entwickle sich "prima". In der 24. Schwangerschaftswoche streicht Chris das zukünftige Kinderzimmer, Sarah kümmert sich um die Einrichtung. Danach beginnen die meisten Paare mit dem Nestbau. Denn eigentlich, so heißt es, kann jetzt kaum noch etwas schief gehen mit der Schwangerschaft.
Bittere Gewissheit nach Ärztemarathon
Es kommt anders: "In der 28. Woche bin ich auf Toilette gegangen und hatte massive Blutungen. Auf einmal. Natürlich kriegst du dann erstmal Panik." Es folgt ein fünfwöchiger Ärztemarathon. In Sarahs 33. Schwangerschaftswoche steht fest: Henris Gehirn hat sich nicht richtig entwickelt. Sie erfährt: Ihr kleiner Junge hat keine Chance zu überleben. Sarah und ihr Freund Chris stehen vor einer folgenschweren Entscheidung. Wollen sie Henri nach der Diagnose "einschlafen lassen" oder warten, bis er "selber geht"?
Henris stille Geburt
An einem Freitag im Mai 2021 hört Henris Herz in Sarahs Bauch auf zu schlagen. Bei Sarah werden die Wehen eingeleitet. Im Kreißsaal der Uniklinik Leipzig kommt Henri am folgenden Montag "still" zur Welt.
Normalerweise entbindest du. Dann schreit ein Kind und du bist die glücklichste Frau der Welt. So war es dann halt nicht. Er war da und es war still.
Studie: Jede sechste Schwangerschaft endet in einer Fehlgeburt - Mehr Hilfe gefordert
*2020 kamen in Deutschland 3.162 Kinder tot zur Welt. In Relation zu den Lebendgeborenen ist das jedes 250. Kind.
*Wenn eine Frau ihr Kind nach der 24. Schwangerschaftswoche verliert oder es mehr als 500 Gramm wiegt, ist von einer Totgeburt die Rede. Der Verlust einer Schwangerschaft bis zu diesem Punkt wird als Fehlgeburt bezeichnet.
*Fehlgeburten unterliegen in Deutschland keiner Meldepflicht, anders als Totgeburten. Ihre Anzahl lässt sich deshalb nicht konkret bestimmen. Eine Studie mit Daten aus Europa und Nordamerika, veröffentlicht 2021 in The Lancet, nimmt an, dass knapp jede 10. Frau eine Fehlgeburt erleidet.
* Ein weiteres Ergebnis der Studie: Jede sechste Schwangerschaft endet in einer Fehlgeburt . Das internationale Expertenteam fordert als Schlussfolgerung aus den Ergebnissen auch mehr Unterstützung für die Betroffenen.
Bewusst Abschied nehmen
Im Krankenhaus nehmen sich Sarah und Chris Zeit, sich von Henri zu verabschieden. Ein Fotograf macht Erinnerungsbilder. Ihr sei das wichtig gewesen, sagt sie, um nichts zu verdrängen. Denn das wäre ihr vorgekommen, als würde sie Henris Existenz leugnen. Für Sarah ist klar: Henri wird immer Teil ihres Lebens sein. Die Fotos, Sarahs Patientinnen-Armband, ein Ausdruck von Henris erstem CTG, all das findet seinen Platz im Kinderzimmer. Für Sarah wird es zum Ort, in dem sie Verbindung zu ihrem kleinen Sohn aufnehmen kann, ein Ort der Erinnerung und Hoffnung. Auch wenn die Zimmertür direkt nach der Geburt erstmal zu blieb: "Es gab einen Tag, an dem ich dachte, es wird nicht mehr. Ich werde aus diesem Loch nicht mehr rauskommen. Aber ohne den Raum wäre es noch schwerer gewesen."
Wir sollten eigentlich den Kinderwagen schieben. Stattdessen haben wir einen Grabstein ausgesucht.
Sprechen hilft: Mit Familie, Freunden – und auf Instagram
Über Henri zu sprechen, das ist, was Sarah wirklich hilft. Mit ihrer Familie, mit Freunden und auch online, auf ihrer Instagram-Seite. Dort teilt sie Henris Geschichte. Die Resonanz ist riesig. Es melden sich viele Paare, die ähnliche Erfahrungen machen mussten, wie sich aus den Kommentaren unter Sarahs Posts herauslesen lässt. Es wirkt, als haben sie vereint einen digitalen Raum zur Selbsthilfe für sich und andere geschaffen.
Die gegenseitige Anteilnahme hilft, mit der Last des Geschehenen zu leben. Sarah erlebt so, dass sie mit ihrem Verlust nicht allein ist – und auch nicht mit ihren Zweifeln und Selbstvorwürfen:
Habe ich vielleicht passiv zu viel Rauch eingeatmet, wenn ich durch die Stadt gegangen bin? Hab' ich was Falsches gegessen? Lag es am Haarefärben? Jeder Arzt sagt: 'Es ist eine Laune der Natur.' Aber leb' mal damit! Damit kannst du nicht einfach so weiterleben. Du suchst einen Grund.
Hilfe & Selbsthilfegruppen
Der Verlust einer Schwangerschaft kann eine Vielzahl an psychologischen Folgen haben. Dazu gehören Angsstörungen, Depression, Posttraumatische Belastungsstörungen oder Selbstmordgedanken. Viele Kliniken verweisen Paare, die eine Tot- oder Fehlgeburt erlebt haben deshalb an Psychologen oder Beratungsstellen.
Hilfe bieten auch (teils private) Selbsthilfegruppen. Zum Beispiel die Sternenkinder Thüringen, die Selbsthilfegruppe Sternenkinder in Magdeburg oder die Selbsthilfegruppe Sternenkinder in Annaberg.
Weltgedenktag & Plattform
In Deutschland sterben jährlich etwa 20.000 Kinder und junge Erwachsene durch Krankheit, Unfall, Früh- oder Totgeburt. Unter dem Motto "Worldwide Candle Lighting" - weltumspannendes Kerzenleuchten - findet jedes Jahr am zweiten Sonntag im Dezember der Gedenktag für verstorbene Kinder statt. "Jedes Licht im Fenster steht für das Wissen, dass diese Kinder das Leben erhellt haben und dass sie nie vergessen werden", heißt es dazu vom Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister ( VEID ).
Selbstvorwürfe und Scham
Totgeburten, Fehlgeburten – solche traumatisierenden Erfahrungen werden im privaten Umfeld ungern besprochen. Das trägt aber dazu bei, dass sie auch gesamtgesellschaftlich wenig Aufmerksamkeit erhalten. Nicht nur das Umfeld auch viele Paare verdrängen aus Angst vor einer Retraumatisierung oder schlicht aus "Scham". Insbesondere Frauen, als diejenigen, in deren Körper ein Kind heranwächst, suchen den Fehler bei sich: "Du gibst erstmal deinem Körper die Schuld dafür", sagt auch Sarah: "Mein Körper war nicht in der Lage ein gesundes Baby zu schaffen", machte sie sich Vorwürfe:
Ich dachte wirklich, mein Körper hat versagt: Ich habe mehrere Monate gebraucht, diesen Gedanken auszuschalten.
In guter Hoffnung
In Henris Krippenbettchen liegt mittlerweile ein neuer Strampelanzug in Regenbogenfarben. Sarah ist wieder schwanger. Im Sommer soll das Baby auf die Welt kommen. "Auf den Sturm folgt ein Regenbogen", sagt sie.
In ihrer jetzigen Schwangerschaft ist sie nun noch vorsichtiger; achtet penibel auf das, was sie isst, welche Kosmetika sie benutzt, ob ihre Familie Erkältungssymptome zeigt.
Der Blitz schlägt nicht zweimal an derselben Stelle ein.
Trotz besseren Wissens kann sie die Sorge und das Misstrauen ihrem Körper gegenüber nicht zur Gänze ausschalten. Aber es überwiegt die Hoffnung.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 12. März 2022 | 18:00 Uhr