Selbstbestimmt - Die Reportage | 16.08.2020 Wenn Kinder ihre Eltern pflegen
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Knapp eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Deutschland pflegen ihre Angehörigen. Die Aufgaben reichen vom Helfen im Haushalt bis zur medizischen Pflege der Erkrankten. Sie stemmen einen Alltag, den viele Gleichaltrige gar nicht kennen. Doch in der Öffentlichkeit wird ihre Arbeit kaum wahrgenommen.

Dass Jugendliche Angehörige pflegen, ist kein Einzelfall. Laut KiFam-Studie ("Die Situation von Kindern und Jugendlichen als pflegende Angehörige, 2018"), übernehmen in Deutschland etwa 480.000 Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren pflegerische Tätigkeiten in der Familie. Das sind im Schnitt ein bis zwei Betroffene pro Schulklasse.
"Die Unsichtbaren"
Eine hohe Zahl, doch im politischen Dauerstreit zum Thema Pflege spielen diese Kinder und Jugendlichen bislang kaum eine Rolle. In den Pflege-Berichten der großen Krankenkassen kommen pflegende Kinder nicht vor. Und auch in der Wissenschaft interessierte man sich lange nicht für sie.
Prof. Dr. Sabine Metzing, Leiterin der KiFam-Studie, forscht seit 2004 auf diesem Gebiet. Sie kennt das Problem der "invisible children", der unsichtbaren Kinder.
Sie weiß, dass Familien mit pflegenden Kindern häufig die Einmischung von außen meiden. Dies geschieht nicht nur aus Scham oder befürchteter Ausgrenzung, auch die fragile häusliche Balance könnte bedroht sein.
Kinder und Jugendliche, die zu Hause in pflegerische Tätigkeiten eingebunden werden, reden selber nicht darüber. Es gibt oft ein Schweigegebot […] in den Familien, weil sehr große Angst besteht, dass die Familie durch Eingriffe von außen, […] auseinandergerissen wird.
Stichwort: KiFam-Studie
Auftraggeber: Bundesministeriums für Gesundheit
Ergebnisse der Studie: 2018
Fragestellung: Wie stellt sich die Situation von Kindern und Jugendlichen als pflegende Angehörige in Deutschland dar?
Befragt wurden zwischen 2015 und 2017 genau 6.313 Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen zwischen zehn und 22 Jahren. 383 oder 6,1 Prozent der Befragten waren aktiv und regelmäßig in die häusliche Pflege von Familienangehörigen eingebunden; 64 Prozent davon waren Mädchen. Die meisten pflegten die Großeltern (33 Prozent), die Mutter oder die Geschwister zu gleichen Teilen (24 Prozent).
Körperliche chronische Erkrankungen stehen mit 38 Prozent an der Spitze der Krankheitsbilder der zu Pflegenden, gefolgt von neurologischen Erkrankungen (23 Prozent), Behinderungen (15 Prozent), onkologischen Erkrankungen (zwölf Prozent) und psychischen Erkrankungen (fünf Prozent).
Die meisten jungen Pflegenden der KiFam-Studie helfen im Haushalt (82 Prozent), bei der Mobilität (72 Prozent), beim An- und Ausziehen (40 Prozent), bei der Medikamentengabe (32 Prozent), der Nahrungsaufnahme (32 Prozent), der Körperpflege (25 Prozent) und auch bei der Intimpflege (elf Prozent). Pflegende Kinder von Alleinerziehenden übernehmen dabei grundsätzlich mehr Aufgaben, als Kinder, die mit zwei Elternteilen leben.
Quelle: aerzteblatt.de
Unterstützung finden
Das ist bei Michelle anders. Sie kümmert sich seit zehn Jahren um ihre Mutter, die an Lungenkrebs erkrankt ist. Zwar übernimmt auch sie die Arbeiten im Haushalt: kocht, wäscht, hilft der Mutter beim An- und Ausziehen.
Doch schon früh sucht und findet sie Hilfe im Verein Flüsterpost, der sich um Kinder krebsranker Eltern kümmert. Der Verein hat sie nach der Diagnose ihrer Mutter aufgefangen, erzählt sie. Gespräche und Treffen mit anderen Kindern haben ihr dabei sehr geholfen.
Ohne die Flüsterpost wäre meine Entwicklung vielleicht nicht so vorangeschritten, wie sie jetzt ist, weil es mir sehr gut getan hat, darüber zu reden.
Eigene Wünsche erkennen
Nicht immer gelingt es den jungen Pflegenden, auch den eigenen Bedürfnissen und Zielen nachzugehen. Zu schleichend nehmen Arbeitsumfang und Verantwortung zu. Da werden eigene Interessen oft hinten angestellt. Hinzu kommt, dass man sich dem erkrankten Angehörigen emotional verpflichtet fühlt.
Das war ein schleichender Prozess. Der Mama ging es leider über die Jahre immer schlechter, aber ich könnte jetzt nicht einfach sagen: 'Ich mach' nichts, weil es nicht meine Aufgabe ist.' Ich fühle mich verpflichtet, weil das meine Mama ist. Ich möchte, dass es ihr möglichst gut geht.
Bei Michelle hat es am Ende geklappt, sich abzunabeln. Sie zog – trotz großer Bedenken - mit ihrem Freund zusammen und wird ein Studium der Sozialen Arbeit in Heidelberg beginnen.
Und sie kann den Jahren der Pflege auch etwas Positives abgewinnen:
Ich glaube schon, dass mir das was gebracht hat, von der Persönlichkeit her, dass ich da früh gelernt habe, Verantwortung zu übernehmen.
Wie junge Pflegende die Zusatzbelastung psychisch verkraften, werden Untersuchungen der nächsten Jahre zeigen. Schon jetzt berichten sie von einer geringeren Lebensqualität. Wie kann man diese Heranwachsenden unterstützen? Ein erster Schritt wäre es, sie aus der Unsichtbarkeit herauszuholen und ihnen Hilfsangebote zu machen. Denn momentan gibt es in Deutschland noch zu wenige Initiativen, die sich explizit um die pflegenden Kinder und Jugendlichen kümmern.
Hilfsangebote
Pausentaste
Informationen und Beratungsangebote des Bundesfamilienministeriums
www.pausentaste.de
Young Carers Deutschland
Beratungs- und Unterstützungsangebot für Kinder und Jugendliche mit kranken, behinderten oder pflegebedürftigen Angehörigen
youngcarers.de
"Echt unersetzlich!?"
Online-Beratung für Jugendliche und junge Erwachsene mit kranken oder behinderten Familienmitgliedern
echt-unersetzlich.de
BkE-Onlineberatung
Professionelles Online-Beratungsangebot der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung
bke-beratung.de
Nummer gegen Kummer
Telefonisches Beratungsangebot für Kinder, Jugendliche und Eltern
nummergegenkummer.de
Tel.: 116111
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt - Die Reportage | 16. August 2020 | 08:00 Uhr