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In Halle hat der Mathematiker Georg Cantor einst die Unendlichkeit auf den Kopf gestellt. Und mit der Leopoldina hat Halle die älteste dauerhaft bestehende Naturforscherakademie der Welt. Doch Halles Wissenschaftsszene lebt nicht nur mit dem Glanz der Koriphäen. Hier wird auch im Jahr 2018 Forschung auf Weltniveau betrieben. Für heute – und für morgen.
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DAMALS
· Kluge Dinge
· Ungewöhnliche Persönlichkeiten
… sind zwei Eigenschaften, die mit Wissenschaft eng verknüpft sind. Egal ob in den Naturwissenschaften oder der Philosophie: Nur wer neugierig und offen ist, kann fortschrittlich denken und arbeiten. In der Geschichte der Universität Halle lässt sich ein solcher offener Geist schon frühzeitig finden. Den Beweis treten vier Persönlichkeiten an, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Vier besondere Persönlichkeiten, die nur wenige Menschen kennen.
· Ungewöhnliche Persönlichkeiten
… wurde an der Universität Halle immatrikuliert – und das bereits 1727. Anton Wilhelm Amo ist als Kind aus dem heutigen Ghana verschleppt und nach Europa versklavt worden. Zu seinem "Glück" landete er nicht auf einer Plantage, sondern wurde an den humanistisch geprägten Hof des Hauses Braunschweig-Wolfenbüttel "verschenkt". Dieses schickte ihn nicht nur zur Schule, das Fürstenhaus ließ ihn auch Philosophie und Rechtswissenschaften in Halle und Wittenberg studieren. 1734 promovierte Amo. Noch heute erinnert eine Statue am Universitätsplatz an ihn.
· Ungewöhnliche Persönlichkeiten
… machte 1754 ihren Abschluss an der Universität Halle. Dass Dorothea Christiane Erxleben als Frau zu dieser Zeit überhaupt studieren konnte, ist nur ihrem Beharren und einem Brief an Friedrich den Großen, damaliger König von Preußen, zu verdanken. 1741 wies er die Universität an, Dorothea zur Promotion zu zulassen. Das Privileg konnte die Quedlinburgerin jedoch erst Jahre später, nach Hochzeit und Kindern, endlich annehmen. Ein Lernzentrum für angehende Hausärzte der Universität Halle trägt heute ihren Namen.
· Ungewöhnliche Persönlichkeiten
… für Biologie und Rechtswissenschaften in Deutschland, traten 1948 ihre Lehrtätigkeiten an der Universität Halle an. Paula Hertwig und Gertrude Schubart-Fikentscher überstanden, mehr oder weniger verwickelt in den Wissenschaftsbetrieb der Hitler-Diktatur, die NS-Zeit. Nach Ende des zweiten Weltkrieges wechselten sie von Berlin und Leipzig an die Universität Halle. Hertwig wurde Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Biologie und Vererbungslehre, während Schubart-Fikentscher die Professur für Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte übernahm. Beide Frauen wurden Mitte der 1950er Jahre Mitglied der noch heute existierenden Akademie der Sächsischen Wissenschaft.
HEUTE
· Wissenschaft in Halle?
· Gedächtnislücke? Kein Problem!
Das menschliche Gedächtnis unterscheiden die Meisten wohl nur in gut oder schlecht. Oder vielleicht in Kurz- und Langzeitgedächtnis. In Wirklichkeit ist es aber weitaus komplexer. Eine Unterform des Langzeitgedächtnisses ist zum Beispiel das Episodische Gedächtnis – der Speicher für unsere persönliche Biografie und ein Forschungsschwerpunkt von Dr. Alp Aslan, Privatdozent an der Martin-Luther-Universität und Leiter der Abteilung für Entwicklungspsychologie.
Von ihm: Sieben denkwürdige Gedächtnisdinge.
· Gedächtnislücke? Kein Problem!
· Jetzt wird's ernst
Kostet aber auch sehr viel Geld. Wer herausragend forschen und guten Nachwuchs ausbilden möchte, ist auf finanzstarke Kooperationspartner aus der Wirtschaft, auf den Bund, aber vor allem die Unterstützung der Bundesländer angewiesen. Mit rund 75 Prozent stemmen sie die Grundfinanzierung der Hochschulen. Was das für Einrichtungen aus einem wirtschaftsschwachen Bundesland wie Sachsen-Anhalt bedeutet, hat die Universität Halle-Wittenberg im Frühjahr 2013 erfahren müssen.
Damals stellte die Landesregierung einen Sparplan für die Hochschulen vor. Bis 2025 wollte sie insgesamt 50 Millionen Euro einsparen. Geld, das allein aus dem Etat der Hochschulen stammen sollte. Der Plan traf auf Widerstand – seitens der Hochschulen, der Öffentlichkeit und auch der damaligen Wissenschaftsministerin Birgitta Wolff. Sie wurde kurzerhand entlassen. Vertrauensbruch lautete der Vorwurf. Doch der Protest der Hochschulen blieb. Sie solidarisierten sich. Tausende Studierende zogen von Halle bis Magdeburg auf die Straßen. Eine turbulente Zeit.
Udo Sträter ist seit 2010 Rektor der Universität Halle. Im Herbst 2018 wird seine zweite Amtszeit enden.
Er erinnert sich noch lebhaft
· Jetzt wird's ernst
· Jetzt wird's ernst
… wurde nach Monaten des Protests am 29. November 2013 mit Handschlag in Bernburg beschlossen. Sachsen-Anhalts Regierung um Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) einigte sich mit Vertretern der Landesrektorenkonferenz darauf, dass kein Hochschulstandort geschlossen wird. Die Einsparungen in Höhe von 50 Millionen Euro sollten nun aus dem gesamten Wissenschaftsetat kommen und nicht mehr allein von den Universitäten gestemmt werden.
· Jetzt wird's ernst
· Jetzt wird's ernst
Die Grundfinanzierung der Universität Halle-Wittenberg lag 2017 bei 147,6 Millionen Euro – ohne Zuschüsse für die Medizinische Fakultät. Eine Summe, die nach viel Geld klingt, aber nicht vor Einsparungen schützt. Denn allein der laufende Betrieb einer Hochschule kostet Millionen.
So musste sich die Universität Halle trotz des »Bernburger Friedens« in den letzten Jahren umstrukturieren. Auf der Basis von bereits im Jahr 2004 beschlossenen Maßnahmen wurden einige Institute und Studiengänge geschlossen, darunter die Ingenieurswissenschaften oder Japanologie. Im Frühjahr 2018 folgte der Bachelor-Studiengang »Instrumental- und Gesangspädagogik«.
Und sonst, Herr Sträter?
· Jetzt wird's ernst
MORGEN
· Supercomputer
Die Martin-Luther-Universität hat einen Super-Laser. Super in jeder Hinsicht: Fast eine halbe Million Euro teuer. Und fähig, Lichtimpulse mit einer Länge von weniger als 35 Femtosekunden zu senden. Unvorstellbar kurz: Eine Femtosekunde entspricht dem billiardendsten Teil einer Sekunde. Mit dem Laser ist es möglich, an extrem kleinen Strukturen zu arbeiten. Und damit Techniken zu erforschen, um Computer deutlich schneller machen. Die arbeiten derzeit noch mit Gigahertz-Taktraten. In Zukunft sollen aber Terahertz-Taktraten möglich sein. Also drei Größenordnungen schneller.
· Supercomputer
Auch wenn wir zu Hause kaum noch Platz auf der Festplatte brauchen, weil wir alle unsere Daten fleißig in die Cloud schieben: Irgendwo braucht jede Cloud einen Speicher. Doch die physischen Grenzen für mehr Kapazität sind so langsam erreicht.
· Supercomputer
Um die Daten von Milliarden von Menschen auch in Zukunft bewältigen zu können, tüftelt Stuart Parkin am Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik an einem ganz neuen Speicher: Racetrack. Der ist, anders als Festplatten- und Flashspeicher, dreidimensional. Daten werden als magnetische Information in Nanodrähten gespeichert. Das ist so platzeffizient, dass eine hundertmal höhere Kapazität möglich ist. Der Durchbruch könnte schon in den nächsten zehn Jahren kommen.
Und wie genau funktioniert das, Herr Parkin?
· Supercomputer
· Supermedizin
In der Massentierhaltung ist der Einsatz von Medikamenten hoch. Bis zu 19 Mal wird allein ein Huhn in seiner Laufbahn als Legehenne geimpft. Verovaccines aus Halle möchte das ändern. Das Startup wurde aus der Universität heraus vom Molekularbiologen Hanjo Hennemann, der Veterinärmedizinerin Martina Behrens und Sven-Erik Behrens, Professor am Institut für Biochemie, gegründet. Gemeinsam arbeiten sie an einem Tierimpfstoff, der mit einer Impfung vor bis zu fünf verschiedenen Krankheiten wie Geflügelbursitis und Vogelgrippe schützen soll. Die Basis sind Lebensmittelhefen.
Wie der neue Impfstoff funktioniert, erklärt Hanjo Hennemann.
· Supermedizin
· Supermedizin
Verovaccines wird durch GoBio, ein Förderprogramm des Bundesforschungsministeriums, unterstützt. In zwei Förderphasen hat das Startup rund 6,4 Millionen Euro für seine Gründung erhalten – als eines von gerade einmal zwei Projekten aus ganz Sachsen-Anhalt. Hinzu kommt die finanzielle Unterstützung von Investoren. Bis der neuartige Tierimpfstoff auf den Markt kommt, werden aber noch einige Jahre vergehen. Derzeit arbeitet das Verovaccines-Team daran verschiedene immunisierende Virusbestandteile in einer Impfdosis zu kombinieren. Auch müssen noch einige Praxistest mit dem Impfstoff durchgeführt werden.
· Supermedizin
Nach wie vor gibt es zu wenig Pflegepersonal – wohl auch, weil dem Beruf immer noch die notwendige Wertschätzung fehlt. Doch der Anteil alter Menschen in der Gesellschaft wächst. Im Dorothea-Erxleben-Zentrum der Universitätsmedizin tüftelt Patrick Jahn mit seinen Kollegen daran, wie Roboter künftig Pflegeberufe übernehmen können.
Und zeigt auch, wie schnell die Grenzen von Thea und ihren computergesteuerten Kollegen derzeit erreicht sind.
· Supermedizin
· Supermaterial
Egal ob Fußbodenbelag oder Dämmschaum: Der Großteil dieser Materialien basiert auf Erdöl. Das muss aber nicht sein. Am Fraunhofer Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen in Halle experimentiert eine Forschergruppe mit Schäumen, die auf Pflanzenöl basieren. Genauer gesagt: Leinöl. Dieses eigne sich ganz besonders gut für die Herstellung von Bio-Bauschaum, da es besonders viele mehrfach ungesättigte Fettsäuren enthält, wie Projektleiterin Nicole Eversmann weiß.
Mit Rapsöl dagegen würde kein harter Bauschaum, sondern lediglich eine gelartige Masse entstehen. Der Grund: Rapsöl enthält zu viel Ölsäure, also nur einfach ungesättigte Fettsäuren. Natürlich reicht Leinöl allein nicht aus, um einen Bauschaum herzustellen. Hinzu kommen Zitronensäure, ein Treibmittel, Organosolv Lignin und ein wenig Farbstoff. Die genaue Mischung bleibt das Geheimnis des Fraunhofer Instituts.
· Supermaterial
Mittlerweile können Eversmann und ihr Team feste wie flexible Schäume herstellen, die auf mehr als 80 Prozent Pflanzenöl basieren. Doch es gibt auch Probleme. Zum einen sind die Bio-Bauschäume noch nicht feuerfest. Zum anderen ist Leinöl ein sehr hochwertiges Pflanzenöl. Stichwort: Teller-Tank-Debatte. Eigentlich soll möglichst nichts industriell verwendet werden, was auch gegessen werden kann. Deshalb versuchen die Forscher ein Pflanzenöl zu finden, dass ähnlich gute Eigenschaften besitzt – aber eben kein hochwertiges Nahrungsmittel ist.
In Frage kommt hierfür das Öl des iberischen Drachenkopfes. Eine Pflanze, die in Deutschland angebaut werden könnte, derzeit jedoch selten auf den hiesigen Feldern zu finden ist. Auch Tallöl, ein Abfallprodukt der Zellstoffindustrie, eignet sich gut. Dieses muss jedoch erst aufwendig gereinigt werden. Doch egal welches Pflanzenöl man auch nimmt: Momentan treiben die Pflanzenöle die Herstellungskosten noch zu sehr in die Höhe. Auch das ist problematisch. Denn Die Industrie möchte zuerst die Produktionskosten gesenkt haben, bevor sie den Bioschaum massenweise einsetzt.
· Supermaterial
Erntereste wie Stengel und Hülsen von Getreide dienen als Einstreu, werden verbrannt oder landen einfach im Müll. Verschwendung – fanden Tony Beyer und Moyu Cao, Design-Studenten der Burg Giebichenstein. Im Rahmen eines Seminars entwickelten sie ein Tool, um aus Landwirtschaftsabfällen einen Bio-Baustoff herzustellen. Hierfür werden zunächste Ernteabfälle zermahlen, danach in eine Form gegeben und anschließend mit einer speziellen Flüssigkeit versetzt. Unterstützt wurden die beiden Designer von Biochemikern der Universität Halle-Wittenberg.
Biobeton – eine Idee mit Zukunft? Tony Beyer erklärt's.
· Supermaterial
ENDE
Redaktion/Kamera/Schnitt/Grafik:
Marie-Kristin Landes
Florian Zinner
MDR Wissen 2018
Bildnachweise zu Paula Hertwig/Getrude Schubart-Fikentscher: Deutsche Fotothek CC 3.0/Rüdiger Fikentscher